Zwischen Theorie und Praxis liegt der Versuch! (Lustiges Taschenbuch 547, S. 238)
Hermann Tietze sagte einmal: „Qualität ist, wenn der Kunde zurückkommt, aber nicht das Produkt.“ Ich sage: „Qualität ist, wenn der Kunde zurückkommt, weil das Produkt bzw. die Weiterbildung einfach anders, einfach anspruchsvoll, einfach besonders oder einfach einfach ist!“
Am 27.07. war es soweit. Das zweite Modul zum Disabled Diver, das Tauchen im Freigewässer stand diesmal auf der Agenda. Der Ausschreibung folgten nicht nur die altbekannten (und altbewährten) Opfer und Täter (zur näheren Erläuterung der Bezeichnungen bitte den Bericht zum Modul 1 in Pinneberg lesen), wir konnten erfreulicherweise auch einen Zuwachs in den Reihen der Probanden und Teilnehmer feststellen. Es ist schön, wenn unsere kleine Familie wächst.
Der Samstag begann mit einem gemeinsamen Frühstück in der Jugendherberge in Lingen. Es folgte eine Einheit Theorie (ebenfalls in der Jugendherberge), bei der die Besonderheiten der Ein- und Ausstiege bei den verschiedensten Beeinträchtigungen angesprochen wurden. Was soll ich sagen, grau ist alle Theorie und zwischen Theorie und Praxis liegt der Versuch. Und natürlich habe ich meine persönliche Versuchsreihe durchgeführt.
Beim Versuch Nr. 1 habe ich mir mal einen Rollator ausgeliehen. Wie mir gesagt wurde, ist es der Mercedes unter den Rollatoren. Das Ding kostet richtig viel Geld, sieht nicht unbedingt sportlich aus und hat eine Beschleunigung wie eine Wanderdüne bei Windstärke 4. Allerdings sind Räumlichkeiten, Wege, Türen und Schwellen nicht unbedingt Rollator-tauglich. Für jemanden, der auf dieses Hilfsmittel angewiesen ist, ist es aber oftmals der einzige Weg zu etwas Freiheit und Eigenständigkeit. Deshalb sollte man das Eigentum der Betroffenen respektieren und Hinweise, Wünsche und Befürchtungen bei der Ausbildung durchaus ernst nehmen.
Unser Basislager durften wir beim Tauchclub Hydra Lingen e.V. aufschlagen. Für die Unterstützung und das Entgegenkommen, auch beim Flaschenfüllen, möchte ich mich auch im Namen der Ausbilder, Organisatoren, Täter und Opfer nochmals bedanken. Ich weiß allerdings nicht, ob den Tauchfreunden bewusst ist, daß Hydra das vielköpfige Ungeheuer aus der griechischen Mythologie ist und nur sekundär als Wasserschlange bezeichnet wird. Jedenfalls ist es von der Basis zum See bzw. dessen Ufer nur ein Katzensprung…für den normalen Taucher.
In der Realität existieren allerdings eine kleine Treppe und ca. 10m Sandstrand bis ins Wasser. Für mich der ideale Zeitpunkt für Versuch Nr. 2. Ich brauche einen Rollstuhl! Das Ding sieht viel schnittiger aus als der Mercedes-Rollator, ist auch deutlich schneller und hat ziemlich schmale Reifen (super Rollwiderstand auf befestigten Pisten, auf losen Undergrund nur schwer zu bewegen). Aha-Effekt Nummer 1: Ich habe einen Rundumblick wie mein 7jähriger Sohn und sehe statt in Gesichter nur auf Ärsche. Die Treppe hat sich zum unüberwindbaren Hindernis aufgetürmt. Also versuche ich den langen Weg, der über eine Rampe führt. Aha-Effekt Nummer 2: Meine Arme sind untrainiert und fühlen sich nach einigen Metern wie Pudding an. Ich gebe irgendwann auf und schiebe den Rollstuhl zurück.
Nach der Einteilung der Gruppen machten wir unsere Ausrüstung fertig. Mein erster Tauchgang soll mit Luke, unserem blinden Opfer stattfinden. Während Luke von seinem Vater beim Zusammenbau unterstützt wird, beschließe ich ein weiteres Experiment, den Versuch Nr. 3: Ich baue meine Ausrüstung mit geschlossenen Augen zusammen. Um eine lange Geschichte kurz zu machen: Es geht nicht! Natürlich weiß ich, wo in der Tauchertasche welche Ausrüstung liegt. Aber Teile suchen und Flasche festhalten, Regler befestigen, Schläuche ordentlich verlegen und Flasche festhalten, Bleitaschen befestigen und Flasche festhalten überfordern mich im Moment und da die Zeit drängt, verschiebe ich den Versuch auf später…viel später, genauer gesagt, auf irgendwann.
Da Luke schon über einige Taucherfahrung verfügt, war es ein relativ entspannter Tauchgang. Lediglich bei der Tarierung benötigt er Hilfe. Die bekam er von mir, indem ich ihn am Flaschenventil festhielt. Wo ich war, war auch Luke. Übrigens war Luke auch der einzige Taucher aus unserer Mitte, der sich nicht über die bescheidenen Sichtverhältnisse beschwerte.
Den zweiten Tauchgang sollte unsere Gruppe mit Telse durchführen, einer gestanden Frau, die sich nach einem Schlaganfall erfolgreich ins Leben zurückgekämpft hat. Leider verhinderten widrige Umstände, genauer gesagt ein defekter Inflatorschlauch den Tauchgang. Aber wenn Telse möchte, kann sie den Tauchgang jederzeit mit mir bzw. uns nachholen. Schließlich kann und darf ich das jetzt.
Zurück in der Jugendherberge gab es während der Wartezeit bis zum Abendessen einen umfangreichen Austausch über das Erlebte, das Erfahrene und das Begriffene. Alle, Täter und Opfer, hatten viel zu berichten und zum Glück dauerte es eine gewisse Zeit, bis Würstchen und Steaks verzehrfertig waren. An dieser Stelle einen großen Dank an Benjamin. Wenn es einen SK Grillmeister geben würde, du hättest ihn verdient!
Aber auch während des Essens und danach wurde diskutiert: Wo soll die Reise hingehen, was sind die nächsten Schritte im Resort Disabled Diver, wie kann und soll das Ganze finanziert werden? Nicht auf alle Fragen konnten zufriedenstellende Antworten gefunden werden, leider.
Der nächste Tag begann wieder mit einem gemeinsamen Frühstück. Uns wurde sogar seitens der Jugendherberge die Möglichkeit geboten, sich selber Lunchpakete (nee, keine Doggy-Packs…) zusammenzustellen. Nach dem Aufräumen der Zimmer hieß es: Wir treffen uns wieder am Speicherbecken.
An diesem Tag war Richard unser erstes Opfer. Richard ist seit einem Unfall auf den Rollstuhl angewiesen. Seine Vorbereitung für das Tauchen unterscheiden sich grundlegend von unseren und dauern dementsprechend länger und wir reden hier nicht nur vom Anziehen des Anzugs. Am Rande des Sandstrands blieb der Rollstuhl stehen und wir versuchten den Transport mittels eines Rettungs-/Tragetuches. Im Wasser selber erfolgte dann das Anlegen von Jacket, Flossen, Schwimmhand-schuhen usw. Ich hätte es ahnen, nein wissen müssen, vor allem nach meinem gescheiterten Rollstuhlversuch, daß unser Rollstuhlfahrer eine durchtrainierte Armmuskulatur besitzt und wir ihm jetzt die Möglichkeiten boten, der Schwerkraft zum Trotz sich unabhängig im freien Raum zu bewegen. Mit raumgreifenden Schwimmbewegungen nutzte Richard seine Chance und entwickelte sich zum menschlichen Torpedo. Wir, seine Begleiter sorgten dabei für die Tarierung und den Trimm und hatten dabei unsere Mühe, mit ihm gleichauf zu bleiben.
Dann wurden noch mal die Probanden getauscht und unsere Gruppe bekam die Aufgabe, gemeinsam mit Lásló zu tauchen. Lásló hat eine spastische Lähmung, allerdings auch schon das 1*-Brevet für Disabled Diver und damit viel Erfahrung mit dem Tauchen und den (Begleit-)Tauchern. Unsere einzige Aufgabe bestand lediglich darin, rechtzeitig und wohldosiert den Schnellablass zu betätigen, damit er in der Tarierung blieb. Alles in allem war es ein sehr entspannter Tauchgang. Ich kann Lásló guten Gewissens als „Beginner“-Opfer empfehlen. Seine ruhige Art und seine taucherischen Fähigkeiten lassen Kontaktschwierigkeiten, Hemmungen und Beklemmungen schnell verschwinden.
Als alle Taucher wieder trocken und die Ausrüstungen verstaut waren, gab es noch das obligatorische Gruppenfoto und eine kurze Diskussionsrunde. Alle waren sich zumindest in einem Punkt einig: Es müsste noch ein Modul 3 geben. Ein Treffen der Absolventen, um Erfahrungen auf beiden Seiten auszutauschen, neue Projekte zu besprechen und natürlich gemeinsam tauchen zu gehen. Ich bin auch dafür, schließlich schuldet Telse mir noch einen Tauchgang.
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